In diesem Jahr blicken wir in vielfältiger Weise auf den Ersten Weltkrieg zurück, der vor 100 Jahren begann - und mit Recht die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" genannt wird. Die zivilisierte Welt fiel in Abgründe. Doch damit nicht genug: Vor 75 Jahren begann nach dem Hitler-Stalin-Pakt der Zweite Weltkrieg, der Schrecken und Gewalt ins Unfassbare steigerte.

Solche Gedenktage machen uns erneut bewusst, welche Geschichte uns geprägt hat. Und sie lassen uns die Gegenwart und die Herausforderungen der Zukunft klarer erkennen. Der Blick zurück kann unsere Aufmerksamkeit schärfen und uns warnen, was kommen kann, wenn wir unachtsam werden. Durch die vielen Gedenkfeiern in diesem Jahr gerieten die Kriegsgräber im In- und Ausland wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das ist gut so, denn sie können uns eine Ahnung von dem massenhaften Leid vermitteln, welches der Krieg über die Menschen bringt - und das Leben von Generationen beeinflusst.

Nach dem millionenfachen Sterben im Ersten Weltkrieg hat es sich der Volksbund zur Aufgabe gemacht, den Toten, den Opfern von Krieg und Gewalt, ein Grab zu geben, einen Ort der Trauer, des Abschiednehmens, des Erinnerns und Gedenkens. Diese Aufgabe hat er auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen.

Nach 1990 wurde es dann nach dem Ende des Kalten Krieges möglich, sich auch in Osteuropa um die Gefallenen und Toten zu kümmern und ihnen auf großen Sammelfriedhöfen eine Ruhestätte zu geben. Seitdem wurden die Gebeine von 800 000 deutschen Gefallenen geborgen und würdig beigesetzt - und jährlich birgt der Volksbund über 30 000 weitere. Diese Aufgabe ist bis heute nicht abgeschlossen. Auch heute noch, fast sieben Jahrzehnte nach dem Krieg, erhalten viele Familien Gewissheit über das Grab von Gefallenen, und anderen im Krieg Umgekommenen. Wer das einmal erlebt hat, weiß, dass dies auch nach so langer Zeit manches in Bewegung bringen kann.

Bald aber wird es kaum noch Zeitzeugen und Angehörige geben. Die Friedhöfe werden mehr und mehr Orte des Gedenkens und Lernens und können auch so künftig ihre gesellschaftliche Bedeutung bewahren. Damit das aber möglich ist, müssen wir sie besser erklären, die historischen Zusammenhänge benennen, die verschiedenen Opfer und ihre Situation stärker in den Blick nehmen.

Seit über 60 Jahren führt der Volksbund junge Menschen aus ganz Europa zusammen - allein in diesem Jahr waren es wieder mehr als 15 000. Sie arbeiten gemeinsam auf Friedhöfen, sie befassen sich ebenso mit der Vergangenheit wie mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und vertiefen auf diese Welse die Einsicht, dass es in unserer Welt keine vernünftige Alternative zum friedlichen Miteinander der Menschen gibt. Diese Jugendbegegnungen sind eine ganz konkrete Arbeit für die Zukunft Europas.

Wenn wir in diesem Jahr - und eben besonders auch am Volkstrauertag - an den Ersten Weltkrieg denken, ist es wichtig, sich die größeren Kontexte deutlich zu machen.

Der Erste Weltkrieg wurde zum Geburtshelfer der beiden großen, antagonistischen totalitären Bewegungen und Systeme des 20. Jahrhunderts - des Nationalsozialismus wie auch des Kommunismus - die lange Jahrzehnte nicht nur das Leben in Deutschland, sondern in Europa und weit darüber hinaus bestimmten. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges war die Welt im Kalten Krieg geteilt, auch Deutschland. Der Osten litt zudem unter der Knute der kommunistischen Diktatur. Ich selbst habe mir nicht vorstellen können, jemals in Freiheit und in einer Demokratie zu leben - und dann auch noch in einem wieder vereinten Land!

Dass dann vor 25 Jahren in Mitteleuropa und der DDR in friedlichen Revolutionen die Freiheit siegte und die Mauer fiel, war - kein halbes Jahrhundert nach den Schrecken des Krieges - für mich ein Geschenk Gottes. So wurde die Für zur Einheit aufgeschlagen: zur Einheit Deutschlands und zum Zusammenwachsen Europas in der EU. Vor zehn Jahren erweiterte sich die EU um die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa.

Die Beschäftigung mit den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den daraus mit der Gestaltung eines integrierten Europa gezogenen Lehren führt uns deutlich vor Augen, dass die Europäische Union mehr ist als ein Finanz- und Wirtschaftsprojekt. Sie ist ein großes Friedens- und Versöhnungswerk, das zu erhalten und weiterzuentwickeln sich nicht nur lohnt, sondern unsere künftige Existenzbedingung darstellt. Mit Recht hat die EU 2012 den Friedensnobelpreis erhalten!

Angesichts der Krisen in der Ukraine und in Palästina wird uns aktuell wieder bewusst, wie wichtig das Eintreten für einen Frieden ist, der Freiheit und Unabhängigkeit sichert - und dass dafür Solidarität gefordert ist.

Auch hierzu soll der Volkstrauertag dienen.

 

Markus Meckel
Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.